Privatissimum, Dienstag, 17.30-19.00 Uhr,
./.
gem. m. Dr. Marie-Luisa Frick
Der Rechtsstaat und der "tiefe Staat", oder:
Ideal- versus Realverfassung
© Hans Köchler, 2010
In the councils of government,
we must guard against the acquisition of unwarranted influence,
whether sought or unsought, by
the military-industrial complex.
The potential for the
disastrous rise of misplaced power exists and will persist.( ...)
(Dwight D. Eisenhower, Präsident
der Vereinigten Staaten von Amerika, 17. Januar 1961)*
Der tiefe Staat ist der Staat selber, er ist das Militär.
(... )
Der tiefe Staat tritt in Aktion, wenn der normale Staat aus
irgendeinem Grund entgleist ist.
(Süleyman Demirel, früherer
Staatspräsident der Türkei, 2005)**
The European Parliament (...) Condemns
the clandestine creation of manipulative and operational networks and
Calls
for a full investigation into the nature,
structure, aims and all other aspects of these clandestine organizations
or any splinter groups,
their use for illegal interference in the internal political affairs
of the countries concerned, the problem of terrorism in Europe
and the possible collusion of the secret services of Member
States or third countries. (...)
(Resolution des Europäischen Parlamentes im Zusammenhang mit "Operation
Gladio", 22. November 1990)***
Thematik:
Im Zuge der politischen Umwälzungen in der Türkei -
insbesondere im Zusammenhang mit den
EU-Ambitionen des Landes -
wurde die Rolle des "tiefen Staates" [derin
devlet] (d.h. eines "Staates im Staate") thematisiert, der
demokratische und rechtsstaatliche Entscheidungsprozesse konterkariere
bzw. dauerhaft gefährde. Die strafrechtliche Aufarbeitung des sog. Ergenekon-Komplexes
hat einer breiten Öffentlichkeit nicht nur in der Türkei die Gefahren, die
mit einer Verselbständigung der mit der Sicherheit eines Staates befaßten
Institutionen zusammenhängen, drastisch vor Augen geführt.
Es handelt sich dabei jedoch in keiner Weise um ein rein türkisches
Problem. Aufgrund der Dialektik von Recht und Macht ist jedes
Gemeinwesen mit der Gefahr des (plötzlichen) Umschlagens der
Rechtsstaatlichkeit in ihr Gegenteil konfrontiert. Da
Recht nur durch effektive
Macht gesichert werden kann, ist die
Kontrolle der Macht im Rahmen eines differenzierten Systems der
Gewaltenteilung
unabdingbar. Macht kann nur durch ihre "Teilung" gezähmt werden. Wie die Erfahrung auch in kleinen, weder wirtschaftlich noch
militärisch einflussreichen Ländern zeigt, ist diese schon unter
"regulären" Bedingungen prekär, umso mehr jedoch unter den komplexen
organisatorischen Voraussetzungen mittlerer und großer Mächte
- insbesondere im Rahmen
eines weltweiten Wettbewerbes um Einfluss und Kontrolle über die
Ressourcen.
Wie die Aussage des früheren türkischen Staatspräsidenten demonstriert,
kann der Antagonismus zwischen den offiziellen (formellen) politischen
Strukturen und einem informellen Machtkomplex ("Staat im Staate") jede
Doktrin der Rechtsstaatlichkeit ad absurdum führen. Letzterer bedient sich
in der Regel einer Legitimationsstrategie, welche auf die Verteidigung der
"wahren" (ursprünglichen) Ziele des Staates abzielt. (Im Falle der Türkei
ist dies die Erhaltung des kemalistischen Erbes; im Falle so mancher
Weltmacht war bzw. ist es die Verteidigung der "Freiheit", der
"Gerechtigkeit", des "Sozialismus", usf.)
Im politischen Alltag, wenn das Gemeinwesen gewissermaßen "problemlos"
funktioniert, kann der "tiefe Staat" weitgehend unbemerkt agieren, zumal
die Interessen der breiten Öffentlichkeit im Sinne von panem et circenses
administriert werden und die Massenmedien dabei zumeist "systemkonform" agieren. Nur
bei größeren innenpolitischen Umwälzungen -
die über das rein Formale (nämlich den routinemäßigen Wechsel von
Parteienkoalitionen in parlamentarischen Systemen) hinausgehen
-, d.h. bei einem
strukturellen, nicht bloß formellen Machtwechsel, oder im Zuge von
Kriegen und anderen traumatischen, insbesondere terroristischen
Ereignissen (z.B. die Anschlagsserie im Italien der sechziger und
siebziger Jahre, das Lockerbie-Attentat in Großbritannien, die Terroranschläge
des 11. September 2001 in den USA) werden Fragen nach nicht deklarierten
Machtstrukturen gestellt -
vor allem dann, wenn die durch das Establishment bereitgestellten
Erklärungsmuster jeder intellektuellen Redlichkeit Hohn sprechen. Nicht
jeder Versuch, das Eintreten des (politisch) Unerwarteten zu erklären,
kann als Obsession bzw. Hang zu Verschwörungstheorien abgetan werden.
Politische Theorie, insbesondere eine Doktrin des Rechtsstaates, muß an
ihrer Aufgabe - der
Erklärung der politischen Entscheidungsprozesse und der Begründung der
Rechtsnatur des Gemeinwesens -
unweigerlich scheitern, wenn sie nur die Oberflächenstrukturen (d.h. die
formalen Prozeduren und legislativen Abläufe) beschreibt, nicht aber in
die Tiefe der Machtausübung vordringt (wobei es hier nicht nur um die
Rolle wirtschaftlicher Interessengruppen geht). Der
tiefe Staat erfordert mehr als eine bloße Phänomenologie der
Macht; es geht um die Offenlegung der in den politischen Debatten und
verfassungsmäßigen Abläufen verborgenen, oftmals bewusst verschwiegenen,
"handlungsleitenden Interessen" und die Benennung der Akteure. Hierin
liegt die besondere Aufgabe der politischen Philosophie bzw.
einer genuinen Ideologiekritik. Die Philosophie muß sich über den
politischen Opportunismus des Augenblickes erheben.
* Farewell speech of President Dwight D. Eisenhower, given on
17 January 1961 and televised in the U.S.A.
** Staatspräsident der Türkei (1993-2000); Statement vom 17. April
2005; deutsche Übersetzung laut Neue Zürcher Zeitung, 21. Oktober 2010.
Originaltext: Radikal, 18. April 2005.
*** European Parliament,
joint resolution replacing B3-2021, 2058, 2068, 2078 and 2087/90,
22 November
1990.
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Online Ressourcen:
N.B.: Eine Anführung in den Literaturhinweisen bedeutet
nicht notwendigerweise, daß sich der LV-Leiter mit den Inhalten des
jeweiligen Textes identifiziert.
Modus:
Referat mit
schriftlicher Arbeit, welche spätestens zum Ende der Lehrveranstaltungsperiode in
digitaler Form (mit einem Ausdruck) abzugeben ist.
Für das Referat muß ein Abstract vorbereitet werden. Die Themenliste wird in der Vorbesprechung erarbeitet.
Von den Teilnehmern werden gute Englischkenntnisse erwartet. Eine Teilnahme ist nur im Zusammenhang mit einem Referat möglich. Für die
Benotung werden neben der schriftlichen Arbeit auch das Referat und die
Diskussionsteilnahme herangezogen.
Persönliche
Anmeldung erforderlich!
Vorbesprechung: 5. Oktober 2010, Dienstzimmer von Prof. Köchler.
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