Zeit-Fragen
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5 Januar 2017 |
Zeit-Fragen > 2017 > Nr. 1, 3. Januar 2017 > Selbstbestimmtes Handeln als Grundlage von Recht und Frieden |
Selbstbestimmtes Handeln als Grundlage von Recht und FriedenZum Jahresbeginn von Professor Dr. phil. Dr. h.c. Dr. h.c. Hans Köchler* Ich werde meine Ausführungen in drei
Abschnitte gliedern. Wie schon die Formulierung des Themas andeutet,
wird es um Grundsätzliches gehen. Ich werde mich also nicht im
Detail mit der augenblicklichen politischen Konstellation
beschäftigen. Selbstbestimmtheit – grundsätzliche philosophisch-anthropologische AspekteErstens: Zum
Philosophisch-Anthropologischen: Die mir hier gestellte Thematik
bezieht sich auf das Wesen und den Daseinsgrund der Demokratie.
Meine Überlegung ist hierbei folgende: Nur als Freier und Gleicher
kann der Mensch überhaupt den Sinn von Gemeinschaft erfassen,
nämlich als die Verwirklichung des eigenen Selbst in der Synergie
der Gruppe. Dazu ist der Mensch als isolierter Einzelner nicht
imstande. «Selbstbestimmtheit» – ich habe diesen Ausdruck bewusst
gewählt im Unterschied zu «Selbstbestimmung» – beschreibt sodann den
Zustand der Gemeinschaft, der daraus folgt. Zunächst aber geht es um
die Grundhaltung des Einzelnen. Selbstbestimmtheit heisst dabei
natürlich nicht Selbstschöpfung – dies wäre die Illusion der
Selbstvergottung –, sondern die Entfaltung der im Individuum
angelegten Möglichkeiten in Gemeinschaft mit anderen, die als
gleichberechtigt gesehen werden. Sie erfolgt gemäss den Prioritäten,
die jeder selbst, aus eigener Überzeugung, setzt und für deren
Verwirklichung er dann auch die Verantwortung trägt. Dies ist meines
Erachtens auch der tiefere Sinn von Freiheit – selbstredend nicht im
Sinne von willkürlichem Handeln nach den Launen und Eingebungen des
Augenblicks, sondern als Ausdruck von Wesensfreiheit, so wie sie aus
der deutschen idealistischen Philosophie erklärt werden kann. Selbstbestimmtheit – politisch-rechtliche AspekteZweitens: Dies bringt mich zur Frage
nach den politisch-rechtlichen Implikationen von Selbstbestimmtheit:
Wie muss ein politisches System beschaffen sein, damit
Selbstbestimmtheit in dem hier angedeuteten Sinn von jedem Einzelnen
realisiert werden kann? Wenn man Selbstbestimmtheit des Menschen als
die eines Bürgers – und damit eben schon als Mitgliedes einer
Gemeinschaft, von der seine Existenz und Identität niemals abstrakt
isoliert werden darf – ernst nimmt, dann folgt daraus notwendig die
Konzeption eines Gemeinwesens nach dem klassischen athenischen Ideal
der direkten Demokratie. Recht erfordert Abwesenheit von WillkürWas das Recht betrifft, so erfordert dieses zu allererst die Abwesenheit von Willkür. Das ist das Um und Auf von Rechtsstaatlichkeit. Damit bedarf das Recht eben auch eines Zusammenwirkens auf der Basis der Freiheit und Gleichheit aller – also Umstände, die ihrerseits den selbstbestimmten, nicht den fremdbestimmten, Bürger voraussetzen. Was den Frieden als politisches Ziel angeht, so erfordert dieser – ob zwischen den Individuen innerstaatlich oder zwischen den Kollektiven international – Respekt, das heisst Akzeptanz auf der Basis der Gegenseitigkeit. Dies ist wiederum nur möglich, wenn jeder Bürger selbstbestimmt zu handeln vermag, das heisst, wenn er nicht lediglich als verlängerter Arm von ihm nicht durchschauter Interessen anderer fungiert, also von mehr oder weniger komplex organisierten sogenannten pressure groups, wie es heute auf Neu-Englisch heisst. Es ist wohl kein Zufall, dass in empirischen Untersuchungen, die vor allem seit den achtziger Jahren angestellt worden sind, immer wieder eine Korrelation festgestellt worden ist zwischen dem jeweiligen politischen System – ob demokratisch oder autoritär beziehungsweise diktatorisch verfasst – und der Neigung eines Gemeinwesens zum Krieg. Besonders interessant erscheint in diesem Zusammenhang eine Untersuchung von Aaron Wildavsky, der bereits 1985 in der Zeitschrift Social Philosophy and Policy einen Artikel unter dem Titel «No War without Dictatorship, no Peace without Democracy» vorgelegt hat. Das ist genau der strukturelle Zusammenhang, auf den ich hier nur im Telegrammstil hinweisen kann. Plädoyer für eine Neubesinnung auf DemokratieDrittens: Dies bringt mich schliesslich zu dem oben angedeuteten Plädoyer für eine Neubesinnung auf Demokratie und für mehr terminologische Ehrlichkeit im Gebrauch dieses Ausdruckes. Die anthropologische und staatspolitisch-rechtliche Vergewisserung des Stellenwertes von Selbstbestimmtheit sollte in der gegenwärtigen Lage – und ich meine dies gerade angesichts der Krise des Gemeinwesens in innen- wie zwischenstaatlicher Hinsicht – Anlass sein, das Paradigma der Demokratie, so wie es den globalen, von der westlichen Hegemonialmacht bestimmten Diskurs charakterisiert, zu hinterfragen. Man kann hier durchaus ohne falsche Anmassung von der Notwendigkeit einer «Ideologiekritik» der Demokratie sprechen. Schon vor mehr als drei Jahrzehnten habe ich hier in der Schweiz, in Genf, im Rahmen einer internationalen Round-Table-Konferenz über die Krise der repräsentativen Demokratie diese Problematik zur Diskussion gestellt. (The Crisis of Representative Democracy. Frankfurt a. M./Bern/New York, Peter Lang AG, 1985) Demokratie ist nicht gleich repräsentative DemokratieInzwischen – seit dem Ende des Kalten Krieges – ist die Problematik noch viel deutlicher geworden. Demokratie wird sowohl im akademischen als auch im allgemein politischen Diskurs und in den Medien zumeist völlig unreflektiert als sogenannte «repräsentative Demokratie» verstanden, obwohl diese Verbindung des Substantives «Demokratie» mit dem Adjektiv «repräsentativ» sensu stricto einen Selbstwiderspruch darstellt, da in dieser Begriffsverbindung bereits die Doktrin der Repräsentation enthalten ist. «Repräsentation» bedeutet jedoch im wörtlichen Sinn das Wieder-gegenwärtig-Machen von etwas, was nicht anwesend ist. Gemeint ist damit, dass das als Ganzes zunächst abwesende Volk erst präsent, sichtbar gemacht werden muss, damit es sich politisch-rechtlich artikulieren kann. Dies geschieht, wie unter anderem Carl Schmitt in seiner «Verfassungslehre» gezeigt hat, jeweils durch einen Einzelnen, dem diese Befugnis zugesprochen wird. Dies kann ein Staatschef sein, der in absoluter Machtbefugnis entscheidet, aber ebenso ein Abgeordneter einer legislativen Versammlung – und in der Folge natürlich auch die Gruppe all dieser Einzelnen. Entscheidend ist dabei, dass Einzelne die Befugnis haben, im Namen aller Bürger zu entscheiden. Dies wird in einer explizit formulierten Doktrin gerechtfertigt, wonach eben diese einzelnen Funktionsträger die Gesamtheit als solche «gegenwärtig» (präsent) machen könnten und deshalb auch die Befugnis hätten, über sie und in ihrem Namen zu entscheiden. Als Beispiel für dieses Staatsverständnis kann man das Werk von Gerhard Leibholz über «Das Wesen der Repräsentation» (1929) anführen, das auch im Nachkriegsdeutschland mehrere Auflagen erlebte. Dazu ist jedoch der begrifflichen Präzision wegen – was den Gebrauch des Wortes «Demokratie» betrifft – festzuhalten, dass Herrschaft des Volkes begrifflich nicht mit Herrschaft über das Volk beziehungsweise im Namen des Volkes gleichgesetzt werden kann. Volkssouveränität im Rahmen einer repräsentativen Verfassung ist eine FiktionWenn es tatsächlich darum geht, die
Herrschaft über das Volk zu rechtfertigen, dann möge man dies offen
sagen und für dieses Machtverhältnis einen anderen Ausdruck
verwenden. Ich bin im übrigen nicht der einzige, der darauf
hinweist. Auch der führende Rechtsphilosoph des 20. Jahrhunderts,
Hans Kelsen, «Vater» der österreichischen Verfassung nach dem Ersten
Weltkrieg, hat in seiner Abhandlung «Vom Wesen und Wert der
Demokratie» (1920) schon vor Jahrzehnten erläutert, dass die Rede
von der Volkssouveränität im Rahmen einer strikt repräsentativen
Verfassung eine reine Fiktion sei. Aus Legitimationsgründen
gegenüber dem Volk, so Kelsen, tue man so, als ob das Volk, das
heisst jeder Bürger für sich, unmittelbar entscheiden würde, während
tatsächlich nur einer oder eine Gruppe von Einzelnen im Namen aller
entscheidet. Dafür wäre jedoch die adäquate Bezeichnung Monarchie
beziehungsweise Oligarchie. Allerdings wäre es eingestandenermassen
etwa im Falle eines parlamentarischen Systems gegenüber der
öffentlichen Meinung geradezu delegitimierend, wenngleich ehrlicher,
von «repräsentativer Oligarchie» zu sprechen. Direkte Demokratie: Korrektiv der Herrschaft in Form der RepräsentationDie Bezeichnung «direktdemokratisch» ist gemäss dem oben Gesagten zwar nicht ein Widerspruch, aber ein Pleonasmus. Wenn Demokratie Herrschaft des Volkes heisst, dann impliziert dies, dass jeder direkt entscheidet. In der Realität der entwickelten Industriegesellschaften wird man also Entscheidungsfindung in Form von «Repräsentation» derjenigen in Form von «Demokratie» gegenüberstellen, wie dies gerade in der Schweiz erfolgreich praktiziert wird. Entscheidend ist dabei Folgendes: «Direkte» Demokratie ist, wenn die Verwendung dieses Pleonasmus hier nochmals gestattet ist, so etwas wie ein Korrektiv der Herrschaft in Form der Repräsentation. Grundsätzlich ist es in jeder Angelegenheit – auf lokaler, regionaler wie gesamtstaatlicher Ebene – möglich, dass das Volk auf den Plan tritt und in Form eines Referendums korrigierend eingreift. Wenn diese Möglichkeit nicht gegeben ist oder etwa durch die Verfassung grundsätzlich ausgeschlossen ist (wie zum Beispiel auf gesamtstaatlicher Ebene in der Bundesrepublik Deutschland), dann hat man allerdings, was die Propagierung des demokratischen Ideals betrifft, ein Problem mit der staatspolitischen Glaubwürdigkeit. [Hervorhebung durch Zeit-Fragen] Die Entscheidung über Krieg und Frieden gehört in die Hände der BürgerDemokratie als direkte Entscheidung der Bürger ist gerade auch auf weltweiter Ebene von Bedeutung, wenn es um die Vermeidung von Kriegen, das heisst um eine nachhaltige Friedenspolitik geht, die nicht nur eine Konfliktsituation taktisch-realpolitisch beruhigt, sondern auf eine Weltordnung hinzielt, die auf dem gegenseitigen Respekt der Völker im Sinne des demokratischen Ideals von Freiheit und Gleichheit basiert. Nur dann, wenn die Entscheidung über Krieg und Frieden in den Händen derjenigen liegt, welche die allfälligen Folgen einer solchen Entscheidung unmittelbar am eigenen Leib verspüren – ich meine hier die Bürger –, besteht Hoffnung auf die dauerhafte Vermeidung von Kriegen. In einem nicht-demokratischen Umfeld werden Kriege hingegen viel leichter vom Zaun gebrochen, weil die verantwortlichen «Repräsentanten» in der Regel nicht mit Leib und Leben für die Folgen ihrer Entscheidung einstehen müssen. Plädoyer für eine Demokratisierung der internationalen BeziehungenSelbstbestimmtes Handeln jedes Einzelnen als Bürger ist deshalb auch zwischenstaatlich die einzige Verbürgung für ein dauerhaft friedliches System – was Immanuel Kant als Konstellation des «ewigen Friedens» bezeichnet hat, womit jedoch nicht Ewigkeit als absolute, endlose Zeit, sondern im Sinn von Dauerhaftigkeit gemeint ist. Dies bedeutet letztlich, dass die Organisation der Beziehungen zwischen den Staaten und die Institutionen, welche die Staaten zu diesem Zwecke schaffen, nach und nach demokratisiert werden müssten und dass durch die Reform der Statuten von weltumspannenden Organisationen wie der UNO ein System geschaffen werden sollte, in dem die Bürger nicht zur Gänze durch ihre Staaten «mediatisiert» werden. Unter den jetzigen Umständen ist es für Beschlussfassungen auf zwischenstaatlicher Ebene völlig gleichgültig, ob ein Gemeinwesen (Staat) aus 10 000 oder 1 Milliarde Bürgern besteht. Jede staatliche Entität hat – ausser bei internationalen monetären Organisationen – sozusagen das gleiche Gewicht, wenngleich gerade im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen einzelne Staaten auf Grund der historisch gewachsenen, obzwar heute bereits überholten Machtkonstellation besondere Vorrechte besitzen, die nicht mit Demokratie im Sinne von «Unmittelbarkeit», wie ich sie hier beschrieben habe, vereinbar sind. Mit diesem Plädoyer für eine Demokratisierung der internationalen Beziehungen, aber vor allem auch regionaler Organisationen – wie derjenigen, die wir uns hier in Europa geschaffen haben, wo die Bürgerbeteiligung das Glaubwürdigkeitsproblem schlechthin ist –, möchte ich meine Ausführungen schliessen und Ihnen für die Aufmerksamkeit danken. • * Vortrag, gehalten bei den Septembergesprächen der Arbeitsgemeinschaft «Mut zur Etik» vom 2.–4. September 2016 |