AWP

ARBEITSGEMEINSCHAFT FάR WISSENSCHAFT UND POLITIK AN DER UNIVERSITΔT INNSBRUCK

Hans Köchler

Das Prinzip Demokratie: Realität und Möglichkeit

Vortrag auf dem internationalen Symposion über direkte Demokratie

Bozen, 17.-18. Mai 1996

© by Arbeitsgemeinschaft für Wissenschaft und Politik an der Universität Innsbruck, 1997
 

 

 

Ich werde das mir gestellte Thema vor allem im Hinblick auf die Thematik der heutigen Konferenz über direkte Demokratie behandeln und zu diesem Zweck das Referat in drei Abschnitte gliedern. Zunächst möchte ich eine allgemeine begriffliche Klärung des Terminus "Demokratie" vornehmen, um dann – in einem zweiten Schritt – so etwas wie eine Bestandsaufnahme der realen Situation in den politischen Systemen, wie wir sie heute in Europa vorfinden, zu machen und schließlich – in einem dritten Abschnitt – mich mit einem alternativen System einer genuinen Demokratie zu beschäftigen, das man als "direkte Demokratie" bezeichnen könnte.

Zunächst also zur begrifflichen Problematik: von philosophischer Seite verwundert es einen, wie unpräzise der Begriff "Demokratie" in den politischen Debatten in der gesamten westlichen Welt verwendet wird. Häufig ist man sich der ursprünglichen Wortbedeutung nicht bewußt, vermutlich weil man den griechischen Wortsinn nicht mehr kennt; ich erinnere in diesem Kontext an frühere Wortschöpfungen wie "Volksdemokratie", ein Terminus, der für den Philologen einen völlig untolerierbaren Pleonasmus darstellt, zumal "Demokratie" auf griechisch "Herrschaft des Volkes" heißt. Wenn man den Ausdruck präzise verwenden will, so muß er zunächst in der formalen Abgrenzung von anderen Herrschaftsformen verstanden werden. Dies ergibt sich aus dem griechischen Ursprung des Terminus. In der griechischen Einteilung gibt es in Abgrenzung zur Demokratie ein System der Monarchie, d.h. ein System, in welchem einer herrscht, wie auch immer diese Herrschaft konkret ausgestaltet sein mag – als Diktatur oder als Rechtsstaat, wobei der Monarch an bestimmte Verfassungsregeln gebunden ist. Zusätzlich zur Monarchie gibt es in der formalen griechischen Einteilung das System der Oligarchie, in welchem mehrere (einige) herrschen, auf jeden Fall nicht einer und nicht alle. Als weiteren Schritt über diese beiden ersten Formen hinaus gibt es – auch wenn die positive Bewertung dieser Ausprägungsform der klassischen griechischen Auffassung etwa in Platons politischer Philosophie nicht entspricht – die Demokratie als ein System, in dem die Gesamtheit, also das Volk, herrscht, was idealiter eine Identität von Herrschenden und Beherrschten bedeuten würde.

Wie müßte man nun begrifflich präzise die Systeme charakterisieren, die wir heute – gemäß unserer politischen Sozialisation – ganz unreflektiert als Demokratie zu bezeichnen gewohnt sind? Wenn ich die verschiedenen parlamentarischen Systeme in meinem Land – in Österreich – und in den meisten anderen europäischen Ländern Revue passieren lasse, so handelt es sich um Systeme, in denen die Entscheidungsbefugnisse über die Angelegenheiten des Gemeinwesens, wenngleich auf eine bestimmte Zeit von vier, fünf oder sechs Jahren begrenzt, in den Händen nicht der Gesamtheit, auch nicht eines einzelnen, sondern in den Händen einiger liegen. Deshalb ist aus der Sicht des politischen Philosophen, auch wenn das aus politisch-taktischen Gründen unpassend erscheinen mag, der adäquatere Terminus für die Systeme, wie wir sie kennen, derjenige der Oligarchie, wobei man präziser von "parlamentarischer Oligarchie" sprechen kann. (Es könnte ja auch Oligarchie in ganz anderer organisatorischer Form, mit ganz anderen als den parlamentarischen Mechanismen geben.)

Entscheidend für dieses System, wie wir es unreflektiert generell als Demokratie zu bezeichnen gewohnt sind, ist die Fiktion der so genannten "Repräsentation". Gemeint ist damit eine Doktrin, nach welcher diese "Einigen" – nach den Verfassungen in der Regel die Angehörigen der Parlamente – die Gesamtheit des Volkes repräsentieren. Um die Plausibilität dieser Konstruktion sicherzustellen, hat man den Begriff eines so genannten "hypothetischen Volkswillens" geprägt. Ich bezeichne diesen insofern als Fiktion, als der jeweilige politische Funktionär, d.h. der Abgeordnete, tatsächlich nicht das Ganze des Volkes vertritt – er kann ja selber gar nicht wissen, was unter dem Volksganzen konkret verstanden werden soll! Der Abgeordnete vertritt in Wirklichkeit jeweils ganz unterschiedliche, partikulare Gesichtspunkte, die insbesondere der Partei zuzuordnen sind, die ihn nominiert hat. Darauf werde ich später noch zu sprechen kommen. Zur begrifflichen Klärung ist es notwendig, darauf zu verweisen, daß Repräsentation letztlich bedeutet, daß die einzelnen Bürger in ihrem Wollen vertreten werden, während tatsächlich der Wille nur persönlich ausgeübt werden kann, andernfalls er gar nicht existiert. Der Wille kann nicht repräsentiert werden. Nach meiner Meinung ist daher ein System genuiner Demokratie stets nur konzipierbar als direkte Demokratie, niemals in der indirekten Form der Repräsentation, da Repräsentation, streng genommen, im Sinne von Rousseau eine Negation des Willens und daher eine Instrumentalisierung des Bürgers bedeutet.

Tatsache ist, daß in den bestehenden Verfassungen der einzelnen europäischen Staaten, mit denen wir uns hier beschäftigen, direkte Demokratie, wenn überhaupt, nur als eine Art Korrektiv der repräsentativen Herrschaft zugelassen wird, im einen Staat mehr, im anderen weniger. Auf die Korrektiv-Funktion der direkten Demokratie scheinen sich auch die Diskussionen in der Region Trentino-Südtirol und in anderen europäischen Ländern zu beziehen. Mir scheint es bemerkenswert, daß eigentlich jeder Exponent jedweder politischen Bewegung, ob sie nun tatsächlich autoritär oder eher kollegial angelegt ist, ob sie auf einen zentral geführten Staat hinzielt oder auf eine föderale Gliederung, sein politisches Rezept als "demokratisch" etikettiert wissen will. Alle politischen Strategien und Entscheidungen – man braucht nur die feierlichen Reden der politischen Würdenträger anzuhören – müssen offenbar als demokratisch deklariert werden. Mir scheint der Begriff der Demokratie in dieser Formalität und Inhaltsleere, die unweigerlich damit verbunden ist, eine Art Worthülse zu politischen Legitimationszwecken zu sein. Nur wenn sich das Volk – könnte man jetzt ironisch formulieren – sagen kann, daß es im jeweiligen System selbst herrscht, dann ist es auch bereit, die öffentlichen Entscheidungen, die im Namen dieser Volksherrschaft getroffen werden, zu akzeptieren. Ich glaube, daß es diese Funktion des Begriffs Demokratie als Worthülse, als eines Legitimations-Terminus ist, die dazu geführt hat, daß er so schwammig ist und so unpräzise benützt wird. Jeder achtet darauf, daß man ihm dieses Monopol auf die Verwendung des Begriffes Demokratie zur Charakterisierung seines eigenen Systems nur ja nicht streitig macht.

Wie ist es nun um die tatsächliche politische Situation in den einzelnen Staaten bestellt? Ich beziehe mich hier vor allem auf die westliche Welt, der wir angehören und die wir aus unmittelbarer Erfahrung kennen. (Ich spreche hier bewußt nicht von der Dritten Welt.) Die Staaten der westlichen Welt charakterisieren sich selbst als Demokratien und treten in diesem Sinne geradezu missionarisch gegenüber dem Rest der Welt, insbesondere gegenüber der Dritten Welt, auf. Sie verknüpfen außerdem die Fragen humanitärer Hilfe und der so genannten Entwicklungshilfe jeweils mit der Forderung, daß die zu unterstützenden Länder ihren eigenen, also den westlichen Vorstellungen von Demokratie folgen müßten.

Aus meiner Sicht muß man in der aktuellen Situation eine Krise der repräsentativen Demokratie konstatieren.1) Die Krise des repräsentativen Systems ist ihrerseits eine Krise des Parteienstaates, der Parteienherrschaft. Es geht hier in abgekürzter und vereinfachender Form um das zentrale Legitimationsproblem unserer parteistaatlichen politischen Systeme am Ende des zwanzigsten Jahrhunderts. Wurde gewissermaßen unter dem Aspekt eines notwendigen Krisenmanagements in der Nachkriegszeit das System des Parteienstaates und damit der Lobbyherrschaft im Nachkriegseuropa mehr oder weniger unreflektiert akzeptiert, so werden vor allem seit den Siebzigerjahren angesichts immer größer werdender ökologischer Gefahren und immer schwerer lösbarer globaler Wirtschaftsprobleme die Parteien von der Bevölkerung zunehmend als Interessengruppen empfunden, welche die Macht monopolisiert haben und nicht bereit sind, auf unmittelbar artikulierte Anliegen einzelner Bevölkerungsgruppen einzugehen (wofür sie aufgrund ihres machtpolitischen "Beharrungsvermögens" auch viel zu schwerfällig wären). Die Entscheidungen auf der Ebene der gesamtstaatlichen Parlamente – die nach den Ergebnissen von Wahlen, bei denen jeweils Parteien und nicht einzelne politische Persönlichkeiten kandidiert haben, zusammengesetzt sind –, könnte man aus meiner Sicht im Sinne eines Kräfteparallelogramms von Partikularinteressen interpretieren. Was bei der jeweiligen Abstimmung "herauskommt", ist das Resultat ganz unterschiedlicher Interessenverflechtungen, d. h. – im Falle des einzelnen Abgeordneten – von "Interessenbindungen" dieses Abgeordneten im Rahmen seiner Partei- oder Kammerzugehörigkeit etc. (welche Gruppe auch immer ihn in die jeweilige Funktion gebracht haben mag). Manchmal sind die Parteien selber nur eine Art Fassade für ein Konglomerat von Interessengruppen, das sie lanciert, d.h. als ein Forum für seine Interessendurchsetzung benützt. Mit derartigen Mechanismen der Entscheidungsfindung können jedoch – dies ist die von mir konstatierte Tatsache- die entscheidenden Zukunftsprobleme, wie etwa die Fragen der Sicherung der Lebensqualität für zukünftige Generationen, nicht mehr zufrieden stellend bewältigt werden, weil der einzelne Abgeordnete immer nur einen begrenzten Entscheidungsspielraum im Hinblick auf die "Interessen" hat, die er vertreten muß und die ihn in das jeweilige Amt gebracht haben. Es ist klar, daß der Planungshorizont – so bedauerlich das sein mag – in diesem Bereich repräsentativer Entscheidungsfindung, wie wir sie in unseren europäischen parlamentarischen Systemen kennen, nicht sehr viel weiter reicht als über die Funktionsperiode des jeweiligen Gremiums – also einige Jahre – hinaus. Eine weit vorausschauende Planung ist im Rahmen eines solchen Systems nicht möglich, weshalb mir die Frustration der Bevölkerung durchaus verständlich zu sein scheint. Diese Frustration ist um so größer, je krisenhafter die Situation im Umweltbereich, im ökonomischen Bereich, ja auch im Bereich der internationalen Sicherheit ist.

Zweifellos war seit den Siebzigerjahren in Europa die Ökologiebewegung – das brauche ich hier im einzelnen nicht zu demonstrieren – der entscheidende Auslöser für diesen Prozeß der Infragestellung unseres repräsentativen politischen Systems. Angesichts des Versagens seiner Repräsentanten, so könnte man schlagwortartig sagen, hat sich der Bürger auf seine unmittelbare Verantwortung besonnen; in weiterer Folge hat dies zu einer Debatte über die demokratische Legitimation und den rechtlichen Status der politischen Parteien geführt. In manchen Ländern – etwa bei uns in Österreich – war jahrzehntelang der verfassungsrechtliche Status der Parteien überhaupt nicht wirklich klar. Die Parteien agierten eigentlich in einem verfassungsfreien Raum, ihr Status war durch die Verfassung überhaupt nicht abgesichert bzw. geregelt. Es kam in weiterer Folge zu einer Debatte über die privilegierte Stellung der Inhaber der politischen Macht, insbesondere der Abgeordneten, die als Funktionäre von Parteien bzw. Lobbies agieren. Insgesamt führte diese Entwicklung – dies hat sich in den letzten zwei Jahrzehnten immer klarer abgezeichnet – zu dem, was ich als "Delegitimation" des politischen Systems bezeichnen möchte.

Es mag in diesem Zusammenhang philosophisch von Interesse sein, näher auf den ideologischen Hintergrund des repräsentativen Systems einzugehen. Dieser wird von denen, die sich an der aktuellen politischen Debatte beteiligen, zumeist geflissentlich übersehen. Tatsächlich ist der Begriff der Repräsentation – im Sinne der Ausübung der Entscheidungsbefugnis durch Einzelne im Namen der Gesamtheit – etwas, was durchaus in totalitären Ideologien seinen Platz hat und auch schon in diesem Rahmen konzipiert worden ist. Diesbezüglich – ich habe dies an anderer Stelle näher ausgeführt2) wären die Analysen des deutschen Rechts- und Staatsphilosophen Carl Schmitt näher zu untersuchen. Es ist kein Zufall, daß einer der führenden Repräsentationstheoretiker im Deutschland der Nachkriegszeit, Gerhard Leibholz, mit seinen Thesen über das Wesen der Repräsentation in einer großen Nähe gerade zur Konzeption von Carl Schmitt gestanden hat. Was ich damit meine, aber hier nur andeuten kann, ist die Verbindung der Konzeption der Repräsentation schlechthin mit der Fiktion der Ganzheit des Volkes bzw. des Volkswillens – man spricht dann vom so genannten hypothetischen Volkswillen – und mit einer Auffassung, die ich letztlich als eine Ideologie der Bevormundung des einzelnen Bürgers charakterisieren möchte.

Man kann durchaus gewisse totalitäre Wurzeln im Konzept der Repräsentation aufzeigen, so wie man auch ideologiekritisch herausarbeiten kann, daß nur eine direkt-demokratische Konzeption eine Alternative zu derartigen Totalitätskonzeptionen von der (fiktiven) Ganzheit des Volkes sein kann. Man kann auch ganz prosaisch auf schon in den zwanziger Jahren im Bereich des amerikanischen politischen Systems ausformulierte Thesen verweisen, wie dies neuerdings Noam Chomsky, der schärfste Kritiker des amerikanischen Systems, getan hat, der sich auf die in mehreren Büchern detailliert ausgearbeitete Konzeption des Kommunikationstheoretikers Walter Lippmann bezieht. In dessen soziologischer Analyse war das Schlagwort zur Charakterisierung dessen, was ein repräsentatives System gemäß dem amerikanischen Verständnis ausmacht – und Amerika betrachtet sich überhaupt als Propheten der Demokratie –, schon vor mehr als einem halben Jahrhundert dasjenige von "manufacture of consent", d.h. von der Herstellung oder Erzeugung von Zustimmung. Wenn man dem Volk – zumindest formaliter – die Möglichkeit gibt, im Zuge von Abstimmungen zwischen mehreren Parteien zu entscheiden – wenngleich es sich dabei oft um keine echten Alternativen handelt –,dann, so Walter Lippmann, muß der Prozeß der Informationsgewinnung und Meinungsbildung so angelegt sein, daß es keine Überraschungen gibt, daß also die Bürger, bevor Entscheidungen getroffen werden, durch den "aufgeklärten" Herrscher mithilfe "aufgeklärter" Medien in eine gewisse, d. h. die gewünschte Richtung gelenkt werden. Wenn man Zustimmung (consent) auf diese Weise mit den Mitteln der Werbepsychologie herstellt – dies war schließlich das Metier des Kommunikationsexperten Lippmann – dann ist Demokratie im Sinne von "Wahlfreiheit" nach amerikanischer Auffassung kein Risiko (für diejenigen, die tatsächlich im Besitz der Macht sind). Eine derartige "Demokratiepraxis" orientiert sich also – dies scheint offenkundig – am Paradigma der Bevormundung des Bürgers, d.h. der Verfügung über den Bürger. Sie basiert auf der These von der Unmündigkeit des Volkes, das einer "weisen" Führung bedürfe. In einem solchen Kontext tut es formaliter auch nichts mehr zur Sache, ob diese Führung von einem oder von mehreren ausgeübt wird, ob dies im Rahmen eines parlamentarischen oder eines andersgearteten Systems geschieht, usf.

So weit zur Bestandsaufnahme der realen politischen Situation im Hinblick auf die repräsentativen Systeme, welche sich selbst als demokratisch charakterisieren und in ihrer Rechtfertigungsstrategie ganz gezielt – auch mithilfe der öffentlichen Bildungseinrichtungen – die Bezeichnung "Demokratie" als Wertkategorie monopolisieren.

Was nun die eigentliche Fragestellung der Konferenz betrifft, so möchte ich aus meiner philosophischen Sicht die Problematik eines alternativen Systems genuiner Demokratie skizzieren. Die Frage, die sich mir auf dem Hintergrund dieser begrifflichen Analyse und der Bestandsaufnahme dessen stellt, was wir an politischen Systemen heute vorfinden, lautet: wie muß ein System politischer Willensbildung und Entscheidungsfindung beschaffen sein, das die Charakterisierung mit dem Begriff "Demokratie" tatsächlich rechtfertigt, d. h. der Freiheit des mündigen Bürgers gerecht wird? In meiner Konzeption gehe ich vom Begriff der Autonomie im philosophischen, insbesondere im Kantischen Sinne, aus. Dieser Begriff ist nicht zu verwechseln mit Autonomie als einer verfassungsrechtlichen Konzeption, wo er – wie etwa in Italien – eine gewisse Art der Selbstverwaltung, der Zuständigkeit für lokale Angelegenheiten, und eine gewisse Unabhängigkeit von den Zentralbehörden bedeutet. Mit Autonomie im philosophischen Sinne meine ich das, was Kant in seiner Transzendentalphilosophie ausgearbeitet hat und was man auch als "Anthropologie der Freiheit" charakterisieren könnte: nämlich die mit dem Status des Menschen als Subjekt – als eines Wesens, das durch Reflexion ausgezeichnet ist – verbundene Würde. "Autonomie" heißt wörtlich, daß der Mensch als Subjekt sich selbst das Gesetz gibt und nicht unter der Herrschaft irgendeiner anderen Instanz steht. Im Kantischen Kontext bedeutet dies, daß der Mensch als Subjekt niemals zum Objekt gemacht werden, d. h. also nicht vergegenständlicht, nicht instrumentalisiert werden darf, daß er mithin niemals von anderen Instanzen in irgendwelche Mittel-Zweck-Relationen eingebunden werden darf, da dadurch seine unveräußerliche Würde verletzt wird.

Aus meiner Sicht ist die Konzeption der Autonomie des Menschen – als Subjekt und eben nicht als Objekt – die entscheidende Grundlage auch für unser heutiges Menschenrechtsverständnis, wie es in der Menschenrechtsdeklaration von 1948 und in den beiden Weltpakten grundgelegt ist. Ich glaube, daß man mit dieser Begrifflichkeit imstande ist, eine ideologieübergreifende und religionsverbindende Konzeption der Menschenwürde zu entwerfen. Diese lege ich der Theorie der Demokratie zugrunde. Dies bedeutet, daß das Paradigma eines menschenrechtskonformen politischen Systems dasjenige der Demokratie im Sinne direkter Demokratie sein muß, weil nur in einem solchen System sichergestellt ist, daß nicht andere – ein einzelner oder eine Gruppe – über mich und mein Wollen verfügen. In diesem Sinn ist nur ein direkt-demokratisches System voll menschenrechtskonform. Jedes andere politische System, in dem über den Bürger verfügt, in dem sein Freiheitsspielraum eingeschränkt und in dem er bevormundet wird, ist eigentlich nicht konform mit der Menschenrechtskonzeption, wie sie sich aus dem Begriff der Autonomie ableitet.

Ich bin mir darüber im klaren, daß es nicht ausreicht, eine Verfassung zu konzipieren, in der festgeschrieben ist, daß die Bürger grundsätzlich souverän sind. Dies steht ohnedies in jeder Verfassung. Überall lautet die Formulierung ähnlich wie bei uns in Österreich, daß nämlich das Recht der Republik vom Volke ausgehe. Es reicht des weiteren überhaupt nicht aus, festzuschreiben, daß das Volk aufgrund seiner Souveränität direkt nach gewissen organisatorischen Prozeduren entscheidet (was ohnedies nicht in jedem einzelnen Fall möglich ist). Entscheidend ist, daß man nicht von den konkreten materiellen und soziokulturellen Anwendungsbedingungen des demokratischen Systems abstrahiert. Formale Prozeduren, ob Wahlen oder direkt-demokratische Abstimmungen, erhalten ihren Sinn nur durch die konkreten materialen Gegebenheiten. Dies bedeutet, daß das Recht, als Bürger seine Meinung zu einer bestimmten gesamtstaatlichen Angelegenheit – etwa in Form eines Referendums – frei zu äußern, nur dann sinnvoll in Anspruch genommen werden kann, wenn man auch die Möglichkeit hat, sich vorher in einer offenen Debatte seine Meinung frei zu bilden. Freiheit in diesem politischen Kontext bedeutet, daß ich nicht Angst haben muß, für mich und für mein Gemeinwesen in eine bestimmte Richtung zu entscheiden, d.h. daß ich nicht unter Druck gesetzt werden darf und die Möglichkeit haben muß, die Konsequenzen der Entscheidung in ihren verschiedenen Aspekten zu durchdenken und Alternativen zu erarbeiten. Dies bedeutet konkret, daß in einem direkt-demokratischen System die Medienvielfalt Voraussetzung für die Sinnhaftigkeit demokratischer Entscheidungen ist. Es heißt weiters, daß der Bürger, soweit er wirklich interessiert und bereit ist, sich zu engagieren, auch Zugang zu Informationen erhalten muß. Durch die Informations- und Computertechnologie gibt es heute in dieser Hinsicht ungeahnte Möglichkeiten. (Ross Perot hat darauf in den Debatten zur Reform des politischen Systems in Amerika hingewiesen.) Die International Progress Organization hat auf der oben zitierten Tagung in Genf den organisatorischen Entwurf eines Computerexperten präsentiert.3) Wenn man den Informationszugang nur gewissen privilegierten Amtsinhabern gewährt, wie das in den bekannten repräsentativen Systemen der Fall ist, dann sind aus meiner Sicht die Voraussetzungen für eine authentische direkt-demokratische Entscheidung der Bevölkerung nicht gegeben, da ihre Willensäußerung mediatisiert und gefiltert ist.

Auf diesem Hintergrund möchte ich fünf Maximen zur Möglichkeit, d.h. organisatorischen Umsetzbarkeit direkter Demokratie formulieren, wobei ich mit dieser Aufzählung keinen Anspruch auf Vollständigkeit erhebe. Im Anschluß daran werde ich auf einige der immer wieder vorgebrachten Kritiken zur Realisierbarkeit der direkten Demokratie eingehen.

Die erste Forderung ist, auf dem Hintergrund des schon Gesagten, die nach einer föderalen Gestaltung des Gemeinwesens nach dem Subsidiaritätsprinzip. Wichtig ist dabei, daß innerhalb des jeweiligen Staates überschaubare politische Einheiten geschaffen werden, in denen direkte Entscheidungen der Bevölkerung über die regionalen Angelegenheiten regelmäßig möglich sind. Man braucht zur Illustration des damit Gemeinten nur auf das Schweizer System zu verweisen. Wenn man von einer Konzeption der direkten Demokratie ausgeht, so ist in gar keiner Weise einzusehen, warum rein lokale oder regionale Angelegenheiten ausschließlich zentralistisch entschieden werden sollen. Dazu kommt die direkte Entscheidung der Bevölkerung über die Bestellung der Exekutivfunktionäre der örtlichen oder regionalen Einheiten hinzu. Es ist demokratisch nicht zu begründen, warum der Bürgermeister, der Bezirkshauptmann oder ein Landeshauptmann (um bei den in Österreich gebräuchlichen Funktionsbezeichnungen zu bleiben) nicht direkt von der Bevölkerung bestellt werden und auch von dieser, falls sie mit seiner Amtsführung nicht einverstanden ist, abberufen werden soll. Es ist nicht nachzuvollziehen, warum diese Bestellungen von einem Stellvertretergremium (Gemeinderat oder Landtag) oder gar von einem Staatspräsidenten in der fernen Hauptstadt oder von anderen Instanzen außerhalb der Region oder Gemeinde vorgenommen werden sollen (wie dies für andere Verfassungssysteme zutrifft).

Zweite wichtige Forderung für ein System genuiner Demokratie ist die nach der Einrichtung des Referendums als der Volksabstimmung auf gesamtstaatlicher Ebene. In einem Verfassungssystem genuiner Demokratie müssen direkte Abstimmungen über zentrale Fragen des Gemeinwesens grundsätzlich jederzeit – natürlich gemäß präzisen Prozeduren, die in der Verfassung festzuschreiben sind – möglich sein. Aus meiner Sicht ist dafür z.B. in Österreich, wo ich die Verhältnisse besser kenne, die Latte etwas zu hoch gelegt. Es sind zu viele geradezu prohibitive Bedingungen daran geknüpft, daß es letztlich zu einem solchen Referendum kommt. Es stellt im Einzelfall keine Lösung dar, wenn der Regierungschef – wie bei der seinerzeitigen "Atomvolksabstimmung" in Österreich – aufgrund der aktuellen politischen Konstellation glaubt, es sei bequemer, eine Sache aus dem Wahlkampf herauszuhalten, indem man sie in einem Referendum dem Volk unterbreitet. Entscheidend bei dieser Einrichtung des Referendums ist, daß die Meinungsbildung, die der Abstimmung vorhergeht, selbst demokratisch ist. Man könnte geradezu eine Art von "demokratischem Paradoxon" formulieren: demokratische Abstimmungen machen nur Sinn, wenn das soziale Milieu, in dem sie stattfinden, schon demokratisch strukturiert ist. Demokratie setzt also gewissermaßen sich selbst voraus.

Dritte Forderung, wenn man die direkte Demokratie als das Paradigma der Verfassungsordnung nimmt, ist die nach der Neustrukturierung der parlamentarischen Vertretung im Sinn eines imperativen Mandates, und zwar, um jedes Mißverständnis auszuschließen – auch wenn dies streng genommen ein Pleonasmus ist – eines imperativen Mandates seitens der Bevölkerung. Es gibt, auch wenn dies zumeist nicht zugegeben wird, in den meisten Staaten schon längst das Instrument des imperativen Mandates, und zwar als imperatives Mandat der Parteien; es wird nur nicht beim Namen genannt. In all den repräsentativen Verfassungssystemen ist es so, daß der Abgeordnete in den parlamentarischen Gremien zwar nach der Verfassung frei entscheidet und nur seinem Gewissen verantwortlich ist; tatsächlich aber erfolgt fast jede Abstimmung gemäß den Weisungen, welche die Parteiführung ihren Klubangehörigen erteilt. Dafür gibt es in Österreich den decouvrierenden Ausdruck des "Klubzwanges", der, so scheint mir, in dieser Unverblümtheit in anderen Sprachen nicht gebräuchlich ist. Eigentlich betrachtet jeder den Zwang, die Zwangsausübung als etwas Negatives, weil sie die persönliche Freiheit ausschließt. Trotzdem verwendet die politische Kaste in Österreich diesen Ausdruck als "routinemäßige" Bezeichnung für den Ablauf der Entscheidungsprozesse im Parlament. Wenn in Einzelfällen – weil es um heikle Fragen etwa des Sexualstrafrechtes geht – die Parteien es für opportun halten, dann wird die Abstimmung, wie es im politischen Jargon heißt, "freigegeben". Auch diese Ausdrucksweise ist politisch decouvrierend: nach der Verfassung muß nämlich jede Abstimmung frei sein. Es zeugt von geradezu diktatorischen Allüren, wenn eine Parteiführung sich anmaßt, einzelne Abstimmungen "freizugeben", zumal sie dieses Recht gar nicht besitzt. Die Verfassungswirklichkeit – die "Realverfassung", wie man in Österreich sagt – ist nun einmal so, daß die Parteien bzw. die hinter ihnen stehenden Interessengruppen, ob Gewerkschaften, Kammern, Industriellenvereinigung etc., die Direktiven ausgeben.

Ich meine nicht dieses imperative Mandat im Rahmen der Parteien- und Lobbyherrschaft; ich meine nicht die Neustrukturierung der parlamentarischen Vertretung in diesem Sinn. Imperatives Mandat im ursprünglichen Sinne bedeutet, daß der Abgeordnete tatsächlich als Vertreter seines Ortes oder seines Bezirkes, seiner Region agiert, daß er mithin als direkter Vertreter seines Wahlkreises (und nicht als Parteienvertreter) angesehen werden und daß dieser sein Wahlkreis auch das Recht haben muß, ihn vor Ablauf der Funktionsperiode abzuberufen, sowie daß der Abgeordnete sich die Direktiven für das Abstimmungsverhalten in gesamtstaatlichen Gremien – zu welchen Themen auch immer – vom jeweiligen Wahlbezirk zu holen hat, von dem er entsendet wird. Auch in Österreich ist es – wie in vielen anderen Ländern – so, daß der Abgeordnete formaliter einem bestimmten Bezirk (Wahlkreis) zugeordnet ist, während tatsächlich, wie allgemein bekannt, die entsendende Partei alle Instruktionen gibt. Ein Entscheidungsmechanismus im Sinne des imperativen Mandats hat überhaupt nichts mit einer "Diktatur der Basis" zu tun, wie das oft verwendete polemische Schlagwort lautet. Tatsächlich müssen wir unter den Bedingungen der sog. "Realverfassung" eine "Diktatur" der Parteisekretariate und Lobbies konstatieren, die im strengen Sinne sogar verfassungswidrig ist, da sie gegen Geist und Buchstaben der Bestimmung vom freien Mandat verstößt. Mit einiger Berechtigung könnte man die Frage stellen, wie es denn mit dem Gelten der Gesetze bestellt ist, wenn sie letztlich in verfassungswidriger Weise (d.h. unter Negation der Entscheidungsfreiheit des einzelnen Abgeordneten) zustande gekommen sind.

In diesem realpolitischen Kontext wäre es entscheidend, daß ein echtes Persönlichkeitswahlrecht eingeführt wird, damit überhaupt ein solches imperatives Mandat seitens der Bevölkerung realisiert werden kann. Ein derartiges Delegierungsverhältnis kann man nicht polemisch-simplifizierend als Diktatur bezeichnen, sonst müßte man auch für Demokratie den Ausdruck "Diktatur des Volkes" verwenden. Was wir in den jetzigen politischen Systemen wie etwa dem österreichischen vorfinden, ist kein Persönlichkeitswahlrecht – wie viele kosmetische Korrekturen man auch immer vornehmen mag –, sondern ein reines Parteienwahlrecht.

Die vierte Forderung geht aus dem schon Gesagten hervor. Ich beziehe mich auf die Beseitigung der Informations- und Meinungsmonopole im jeweiligen Gemeinwesen. Die direkte Willensäußerung der Bevölkerung ist sinnlos, d.h. demokratisch wertlos, wenn die Meinungen zu den Themen, über die entschieden werden soll, vorher in eine bestimmte Richtung kanalisiert werden bzw. wenn sich der Mächtige, die jeweilige Interessengruppe – im Sinne der Thesen von Walter Lippmann – das Ergebnis der Abstimmung "bestellen" kann. Aus österreichischer Sicht bietet sich zur Illustration das Beispiel der Volksabstimmung über die Mitgliedschaft in der Europäischen Union an. Nach aktuellen Umfragen ist nunmehr eine Mehrheit der österreichischen Bevölkerung der Meinung, daß man sie irregeführt habe, als eine allumfassende, generalstabsmäßig geplante Informationskampagne (besser: Werbekampagne) in den Monaten vor der Volksabstimmung den EU-Beitritt schmackhaft machen sollte. Viele Bürger sind jetzt der Meinung, daß man ihnen wichtige Tatsachen zur Bewertung dieser Frage vorenthalten beziehungsweise daß man auch bewußt Tatsachen falsch dargestellt habe.

Generell ist zur Frage der öffentlichen Information, die eines der komplexesten Probleme von Demokratie überhaupt darstellt, zu sagen, daß auf jeden Fall ein Minimum an freiem Wettbewerb zwischen verschiedenen Informationsträgern gegeben sein muß und daß es nicht tolerierbar ist, wenn z. B. ein Bürger, nur weil er finanziell besonders potent ist und Milliardeninvestitionen im Mediensektor tätigen kann, willkürlich und unter Verzerrung des "freien Informationswettbewerbs" in den Meinungsbildungsprozeß eingreift. Dies gilt selbstverständlich für Regierungen und Interessengruppen gleichermaßen. Wenn es keine Korrektivmechanismen gibt und wenn ein derartiges, auf Privat- bzw. Regierungs- oder Lobby-Interessen beruhendes Informationsmonopol oder ein derartiger mächtiger Informationskonzern nicht auch in dem, was er an Meinung propagiert, durch alternative Informationsmedien korrigiert werden kann, dann ist es gleichgültig, ob man Entscheidungen repräsentativ-parlamentarisch oder direkt-demokratisch trifft. Sie sind in demokratischer Hinsicht irrelevant.

Die fünfte Forderung in dieser nicht Anspruch auf Vollständigkeit erhebenden Aufstellung ist die nach der Beseitigung des Parteienproporzes bzw. des einseitigen Parteieneinflusses in allen öffentlichen Angelegenheiten. Die politischen Parteien, wie wir sie in unseren Systemen kennen, vertreten ganz bestimmte Interessen. Das besagt schon der Name "Partei" im Sinne von "Parteiung": es geht ex definitione nur um Teil- und niemals um irgendwelche Gesamtinteressen. So lange die Parteien den Bürger in zentralen Bereichen seines Alltags bevormunden,4) scheint es mir keinen freien öffentlichen Raum zu geben, in dem politische Debatten unbefangen und souverän vom Bürger geführt werden können. Die Voraussetzungen politischer Mündigkeit sind nicht gegeben, wenn der Bürger – insbesondere der Künstler, der Intellektuelle, der Wissenschaftler – in Abhängigkeit von Parteien gehalten wird, die Privilegien in geradezu feudaler Manier vergeben bzw. vermitteln. Im Alltag des österreichischen und insbesondere des Wiener Bürgers sind es häufig die Parteien, die ihm eine finanzierbare Wohnung vermitteln oder ihm dieses "Privileg", weil er gerade nicht zur richtigen Partei im jeweiligen Machtrevier gehört, vorenthalten. Zur Reduzierung derartiger Abhängigkeiten scheint es mir zusätzlich wichtig, daß der Parteieneinfluß auch durch einen Rückzug des Staates aus dem Bereich der Wirtschaft reduziert wird.

Was nun die immer wieder gehörte Kritik hinsichtlich der Realisierungsmöglichkeiten der direkten Demokratie betrifft, so möchte ich zu drei Kritikpunkten kurz Stellung nehmen. Zunächst zur so genannten Kompetenzfrage: es wird immer wieder behauptet, der Bürger selber sei nicht befähigt, in den Angelegenheiten der Allgemeinheit mitzubestimmen, weshalb er gerade der Repräsentanten bedürfe. Diese verkörperten ein höheres Niveau an politischer Bildung und würden auch entsprechenden Zugriff auf Expertenmeinungen haben, usf. Ich stelle demgegenüber die Behauptung auf, daß der Durchschnittsbürger jedes Landes in unserer westlichen Welt – wo die Voraussetzung einer hohen Alphabetisierungsrate gegeben ist – genauso kompetent oder inkompetent in öffentlichen Angelegenheiten ist wie der durchschnittliche Politiker. Entscheidend ist nur, daß der Bürger erstens die Möglichkeit und zweitens das Interesse hat, sich zu einem bestimmten Sachproblem kundig zu machen. Das generelle Problem der Abhängigkeit von Expertenmeinungen besteht im repräsentativen System für die Minister und Abgeordneten genauso wie für den anonymen Stimmbürger. Es handelt sich hierbei um ein Problem, das jedes politische System tangiert und nicht gegen die direkte Demokratie ins Treffen geführt werden kann.

Der zweite Kritikpunkt, den man immer wieder hört, bezieht sich auf die angebliche politisch-moralische Unmündigkeit des Bürgers. Das System der direkten Demokratie, so wird argumentiert, sei insofern problematisch, als die Bürger im Extremfall z.B. alle Steuern abschaffen könnten (was in der Schweiz übrigens seit Einführung der direkt-demokratischen Instrumentarien nicht geschehen ist). Man verweist gerne auf den ungehemmten Egoismus des Bürgers, der als gesellschaftlich "Vereinzelter" nur kurzsichtig seine eigenen Interessen vertreten und nicht allgemeine Perspektiven oder gar das Gemeinwohl berücksichtigen würde. Demgegenüber vertrete ich die Auffassung, die man auch im Detail belegen könnte, daß, wenn der Bürger als einzelner frei und geheim in Angelegenheiten der Gesamtheit entscheiden kann, das Resultat wesentlich mehr den Anforderungen einer "Verantwortung für das Gemeinwohl" (der volonté générale) entspricht als wenn man die Entscheidung in die Hände repräsentativer Gremien, d.h. letztlich von Lobbies, legt. Im letzteren Falle ist eine weit vorausschauende Planung, wie ich oben dargelegt habe, schon wegen des Wettbewerbs um die Stimmen der einzelnen Interessengruppen nicht möglich. Der einzelne Bürger hingegen braucht, wenn er z.B. bei einem Referendum entscheidet und wenn ihm niemand "über die Schulter schaut", in seiner Entscheidung auf keinerlei Lobby-Interessen Rücksicht zu nehmen – er kann also tatsächlich nach seinem Gewissen entscheiden. Diesen "Luxus" kann sich der Abgeordnete nicht leisten. Er kann stets nur fiktiv frei entscheiden, weil es eben so in der Verfassung steht. In der "Verfassungswirklichkeit" aber muß er sich für die Entscheidung, die er trifft, stets gegenüber der Partei bzw. der ihn unterstützenden Interessenvertretung rechtfertigen. Die jeweilige Gruppe, welcher der Abgeordnete angehört, würde ihm gegebenenfalls eine Minimierung der Wahlchancen oder eine Beeinträchtigung ihrer Finanzierungsmöglichkeiten vorwerfen oder ihn sonst irgendwie zur Räson bringen, wie anhand mannigfacher Beispiele aus der parlamentarischen Praxis in Europa gezeigt werden kann.

Worum es in dieser Debatte über das Verantwortungsbewußtsein und die politische Reife der Bevölkerung geht, kann mit einem Beispiel aus der österreichischen Politik der letzten Jahre illustriert werden. Ich beziehe mich auf die "Atom-Volksabstimmung" in der Amtszeit des Bundeskanzlers Kreisky. Rückblickend sind viele Repräsentanten unseres Staates froh, daß die Bevölkerung damals, wenngleich knapp, gegen die "friedliche" Nutzung der Kernenergie entschieden hat. Seit Tschernobyl sind Experten und Politiker klüger geworden; heute ist es vielen bewußt, daß das Risiko dieser Technologie zu groß ist, wenn man bedenkt, daß im Falle einer Katastrophe (Supergau) eine ganze Region (für Österreich entspräche dies der Dimension zumindest eines Bundeslandes) auf unabsehbare Zeit abgeschrieben werden muß. Man könnte noch viele andere Beispiele zur Widerlegung der These von der politischen Unmündigkeit der Bevölkerung anführen, was ich mir aber aus Zeitgründen versagen muß.

Ein dritter Kritikpunkt, der immer wieder vorgebracht wird, ist derjenige einer angeblichen Tendenz zum Totalitarismus. Meine These ist demgegenüber, daß totalitäre Tendenzen in einem System der direkten Demokratie auf keinen Fall stärker sind als in einem System der repräsentativen Demokratie. Wenn die verschiedenen Interessengruppen die Kontrolle über den Bürger abzugeben gezwungen sind, wenn der Bürger weiters die Möglichkeit hat, sich seine Meinung frei und unbeeinflußt zu bilden, dann ist durch nichts zu erklären, warum gerade dieser Prozeß der politischen Emanzipation totalitären Tendenzen Vorschub leisten sollte. Offenbar gibt es bei uns Ideologen bzw. Politologen, die sich, wenn es um politische Entscheidungen geht, nur eine Relation von Führern und Geführten, Herrschenden und Beherrschten, vorstellen können – ganz im Sinne von Robert Michels' Thesen über das oligarchische Wesen des Parteienstaates. Wenn man davon ausgeht, daß das Volk die Repräsentanten braucht, die es führen, dann mag es wohl zutreffen, daß, wenn man "die Herde sich selbst überläßt", sie erst recht wieder nach einem charismatischen Führer verlangt, der ihr die Ziele vorgibt. Aber eine derartige Entwicklung wird durch die direkte Demokratie geradezu ausgeschlossen. Wenn man das einzige in Europa – zumindest in Teilbereichen – praktizierte Beispiel der direkten Demokratie, das Schweizer Modell, betrachtet, dann kann man nicht sagen, daß dort die Entwicklung in Richtung eines Führerstaates gegangen wäre.

Wenn man die verschiedenen Forderungen zur demokratischen Umgestaltung des politischen Systems bedenkt und die Möglichkeiten realistisch einschätzt, dann kann abschließend gesagt werden, daß eine Mischform von repräsentativen und direkt-demokratischen Mechanismen, wie wir sie aus der Schweiz kennen, auf jeden Fall menschenrechtlich und demokratietheoretisch adäquater ist als unser derzeitiges fast ausschließlich an Parteien orientiertes System. Für mich gibt es keinen philosophischen, ethischen oder psychologischen Grund, dem Bürger die Mündigkeit im Bereich politischer Sach- und Wertfragen abzusprechen.

Ich möchte in diesem Zusammenhang auf ein stets übersehenes Paradoxon in der Rechtfertigung unseres repräsentativen Systems verweisen: Man macht dem Bürger zwar die Kompetenz in konkreten Sachfragen streitig – man behauptet, er könne die einzelnen Fragen aufgrund mangelnder Sachkenntnis und mangelnden Überblicks nicht selbst entscheiden –, man billigt ihm aber sehr wohl die Kompetenz zu, darüber zu entscheiden, wer die befähigten Vertreter sein sollen. Der Bürger kann in den Wahlen jeweils diejenigen bestimmen, die aus seiner Sicht kompetent sind, die Entscheidungen im Sinne des Gemeinwohls zu treffen. Dies bedeutet, daß man dem Bürger zwar auf der materialen Ebene die Kompetenz abspricht, ihm aber so etwas wie eine "Kompetenz-Kompetenz" auf einer übergeordneten Ebene zubilligt, nämlich die Fähigkeit, zu prüfen bzw. zu entscheiden, wer tatsächlich in Sachfragen kompetent ist. In dieser Argumentation offenbart sich ein ganz entscheidendes Problem in der Legitimation des repräsentativen Systems. Mir scheint, daß dieser Selbstwiderspruch in der ideologischen Begründung des repräsentativen Systems geradezu ein Plädoyer für die direkte bzw. die partizipatorische Demokratie darstellt.

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Anmerkungen

1) Vgl. dazu die Analysen der von der International Progress Organization veranstalteten Expertentagung zur Krise der repräsentativen Demokratie (Genf 1985): Hans Köchler (Hrsg.), The Crisis of Representative Democracy. Frankfurt a.M./Bern/New York 1987.
2) Vgl. die Abhandlung des Verf.: Die Repräsentationslehre. Zum Problem des Idealismus in der politischen Theorie, in: Hans Köchler, Philosophie – Recht – Politik. Abhandlungen zur politischen Philosophie und zur Rechtsphilosophie. Wien/New York 1985. S. 27-45.
3) Geoffrey Darnton, The Architecture of Large-Scale and International Participative Democracy, in: Hans Köchler (Hrsg.), The Crisis of Representative Democracy. Frankfurt a.M./Bern/New York 1987. S. 263-283.
4) In Österreich gilt dies nicht nur für die Zuteilung geförderter Wohnungen, sondern weitgehend auch für die Personalpolitik an den Schulen und Universitäten (um nur einige besonders typische Beispiele zu nennen).